StadtRand

Geschichte

Tobias Prey, Mitarbeiter der ersten Stunde, erinnert sich an die Anfänge und Veränderungen:

Als die Entscheidung fiel, in Tiergarten eine weitere regionale Selbsthilfe-Kontaktstelle aufzumachen, lag Tiergarten noch ganz im Osten - von Westberlin. Hinter dem Reichstag war die Welt zu Ende und über den Potsdamer Platz hoppelten die Kaninchen am letzten einsamen Haus vorbei. Damals lief alles in den geregelten Westberliner Bahnen. Soziale Infrastruktur wurde ausgebaut, ABM-Stellen wurden nach Tarif bezahlt und liefen über zwei Jahre. Der Job des Finanzsenators muss dem des Weihnachtsmannes ähnlich gewesen sein. Für Staatsverdrossenheit war Kreuzberg zuständig, und wem das nicht passte, der wurde freundlich aufgefordert, doch "nach drüben" zu gehen.
So ging denn vom Beschluss, eine Kontaktstelle zu eröffnen, bis zu seiner Verwirklichung einige Zeit ins Land:

Wo bitte liegt Moabit?

Erst war es gar nicht so einfach, überhaupt einen geeigneten Laden zu finden. Tatsächllich waren die meisten Läden noch belegt. Wir mussten einige Wochen suchen, bis wir einen Laden gefunden hatten, der in Frage kam, und bis dann endlich der Mietvertrag unter Dach und Fach war, waren Monate vergangen. Die Selbsthilfe-Kontaktstelle sollte also in der Wilsnacker Straße in Moabit ansässig sein.

Moabit - das war so ein Stadtteil, von dem viele nicht mehr wussten, als dass es ihn gibt. Er gehörte halt nirgendwo dazu: Er gehörte nicht nach Nordberlin, nicht nach Südberlin, nicht in die City - dann gab es noch Kreuzberg, zwischen Zoo und Kreuzberg einen großen Park, nach Norden dicht gefolgt von Bahngleisen.
So dachten - wie gesagt - viele Nicht-Moabiter, in ignoranter Verkennung all der Moabiter Herrlichkeiten. Die Moabiter selbst sahen das natürlich immer schon anders und quittierten diese Ignoranz mit einer Mischung aus Empörung und Selbstzufriedenheit. Es war doch alles da: Die Turmstraße mit allen Läden, die man so brauchte, Kneipen jeder Coleur, ein Schwimmbad, ein eigenes Krankenhaus, sogar einen kleinen Tiergarten-Park.
Und nun gar noch eine Selbsthilfe-Kontaktstelle! Was würde das nur Feines werden, wenn es denn erst mal fertig würde?
Bis dahin war freilich noch ein Stückchen Weg. Schließlich war der Laden in desolatem Zustand. nicht beheizbar und nicht barrierefrei (hieß damals noch behindertengerecht). Also mussten erst einmal Handwerker ran. Dies dauerte wieder in aller Gemächlichkeit eine Weile. Die Mauer war inzwischen offen, wenn auch nicht weggeräumt, Tiergarten lag plötzlich - noch etwas unsicher über die neue Rolle - wieder mitten in der Stadt. Aber noch lief vieles weiter den alten Gang. So schnell verändert sich das Lebensgefühl nicht.

"Und wat macht ihr da...?"

Endlich konnte die Selbsthilfe-Kontaktstelle dann der Öffentlichkeit übergeben und den Moabitern und allen anderen Tiergartenern zur Nutzung anempfohlen werden.
Und es gab sicher nicht wenige, die das Wortungetüm und die damit verbundene Einrichtung mit freundlich aufgeschlossener Ratlosigkeit betrachteten: "Und wat macht ihr da?" Hier unterschieden sich die Moabiter übrigens nicht von den Nicht-Moabitern.
Als in der Kontaktstellen die Jalousien montiert wurden, erkundigte sich der Monteur über den Zweck der neuen Stelle. Nach meiner Erklärung dann sein Resümee: "Also, wenn man so Probleme hat, kann man sich hier melden? Also, ich hab das Problem, dass ich für mein Auto 'nen neuen Heckspoiler brauch. Kann ich mich dann auch hier melden?"
Aus der Heckspoiler-Selbsthilfegruppe ist nie was geworden. Was eigentlich schade ist, weil es vielleicht einige gegeben hätte, denen dieses Thema unter den Nägeln gebrannt hätte Für mich war das das praktische Erleben einer Regel, die in der Selbsthilfeförderung zu den eheren Grundsätzen gehörte: Nicht du bist zuständig für die Themen, die in der Stelle bearbeitet werden, sondern die Leute, die sie bearbeiten.
Noch etwas wurde daran deutlich: Es ist nicht die einzige Form von Selbsthilfe, sich im Gespräch mit anderen über das eigene Problem auszutauschen. Andere reden vielleicht nicht so gern über ihr Befinden, sondern machen lieber etwas Praktisches.

Selbsthilfe ohne Altersgrenze

Als eine Weile später die Buslinie durch die Wilsnacker Straße eingestellt werden sollte, kam zu uns in die Stelle eine ältere Frau und erkundigte sich, ob sie wohl eine Unterschriftenliste für den Erhalt der Buslinie auslegen dürfte. Dies gestatteten wir ihr gern, waren doch gerade die älteren Mitbürger bislang eine selten gesehene Bevölkerungsgruppe in der Kontaktstelle. Was hatten wir nicht alles versucht, auch Themen anzuregen, von denen wir meinten, sie müssten auch ältere Menschen ansprechen - vergeblich! Es musste wohl daran liegen, dass ältere Menschen mit Selbsthilfe und so einem Laden dafür nicht viel anzufangen wussten.
Was für ein Irrtum! Es stellte sich heraus, dass die Älteren keineswegs Berührungsängste mit dem Haus hatten, sondern geradezu in Scharen kamen. Einige nahmen Listen mit, die sie bei sich im Haus oder in anderen Läden auslegen wollten. Binnen weniger Tage waren etliche Listen voll. Die älteren Herrschaften waren "rehabilitiert" und wir um eine Erfahrung reicher. (Der Buslinie hat es leider trotzdem nichts genützt.)
Noch einmal kamen wir in den Genuss eines Ausbaus von sozialer Infrastruktur, als allen Berliner Regionalen Selbsthilfe-Kontaktstellen je eine zusätzliche Personalstelle bewilligt wurde. Echt, dauerhaft und immer noch nach Tarif. Da gab es inzwischen schon wieder nur noch ein Deutschland, und eine ehemaliger Staatsratsvorsitzender wurde eine Zeitlang - unfreiwillig - selbst prominenter Moabiter.

Mitten in die Mitte

Das ist alles eigentlich gar nicht so furchtbar lange her, aber es hat sich in der Zwischenzeit doch eine Menge getan: Das Amt des Finanzsenators ist gedanklich jetzt weniger mit dem Weihnachtsfest, sondern eher mit dem Aschermittwoch in Verbindung zu bringen. Den LAden in der Wilsnacker Straße gibt es nicht mehr (Tatsächlich: Es ist nicht nur die Kontaktstelle ausgezogen, sondern der ganze Laden ist verschwunden!) Und Tiergarten heißt jetzt Mitte - so wie die Selbsthilfe-Kontaktstelle.
Die aber ist geblieben. Und nicht nur das: sie ist auch größer und schöner geworden - was ja auch richtig ist, wenn sie von nun an nicht nur die Menschen aus Tiergarten, sondern auch aus dem Wedding und aus Alt-Mitte anlocken soll (womit dann endgültig der Sprung aus der Mauerstadt geschafft ist). Und noch etwas ist geblieben: das Konzept, für die da zu sein, die die Stelle nutzen wollen. Sich auf ihre Themen einzulassen und auf die Art, wie sie sie bearbeiten wollen oder können. Das hat die Kontaktstelle schon in der Vergangenheit guten Zulauf und gut genutzte Räume beschert und wird es sicher auch in Zukunft tun.

Sommer 2005 zum 15 jährigen Bestehen